GRENZGÄNGER ZWISCHEN DEN KULTUREN
Aufgewachsen im kosmopolitischen Klima der sechziger und siebziger Jahre in Beirut, lernte Rabih Abou-Khalil schon im Alter von vier Jahren das Oud, die arabische Kurzhalslaute, zu spielen. In der arabischen Welt ist dieses Instrument so populär wie im Westen Gitarre und Klavier zusammen. Der libanesische Bürgerkrieg zwang ihn 1978, sein Land zu verlassen. An der Musikhochschule in München studierte er klassische Musik bei Professor Walther Theurer, der Abou-Khalil die westlich-musikalische Denkweise näherzubringen wusste, was es ihm wiederum erleichterte, einen direkten Weg der Kommunikation mit seinen westlichen Mitmusikern zu finden. Die analytische Beschäftigung mit der europäischen Musik und sein Interesse an den Musikkulturen ermöglichten es ihm nun, auch die arabische Musik aus einer zusätzlichen theoretischen Sicht heraus zu begreifen und eröffnete ihm die Perspektive, in musikalisch voneinander abweichenden Koordinatensystemen operieren zu können. Seine einmaligen Kompositionen, immer mit herausragenden Musikern realisiert, stellen sicher alles in den Schatten, was bisher an musikalischen Fusionen versucht wurde.
Unwillig, künstlerische Kompromisse einzugehen, entschied sich Abou-Khalil schon früh dafür, seine Musik selbst zu produzieren und zu veröffentlichen. Er hat stets dem Gesamtgeschehen auf der ganzen Linie seine persönliche Handschrift verliehen. Von der Regie, dem Design der Hülle bis hin zum Gesamtklang: immer war er an jedem Entstehungsschritt persönlich beteiligt. Dies hat sich bis heute nicht geändert und blieb ein zentraler Punkt in seiner langjährigen Zusammenarbeit mit der Plattenfirma “ENJA”.
1982 nahm Abou-Khalil seine erste Schallplatte “Compositions and Improvisations” auf, die von der Presse begeistert aufgenommen wurde. Zwei Jahre später erschien “Bitter Harvest” und nach weiteren zwei Jahren die CD “Between Dusk and Dawn”, mit der ersten international besetzten Gruppe (Charlie Mariano, Glen Moore, Glen Velez, Ramesh Shotham u.a.), die Abou-Khalils rhythmisch-melodischen Kompositionsstil festigte. Es folgten mehrere Aufnahmen wie die preisgekrönte Platte „Blue Camel“ mit renommierten Jazzmusikern (Sonny Fortune, Steve Swallow, Kenny Wheeler) oder mit großartigen traditionellen arabischen Musikern.
Rabih Abou-Khalil hat sich als Komponist und Instrumentalist längst einen gewichtigen Namen gemacht. Und nicht etwa nur, weil er seiner Zeit weit voraus wäre – vielmehr weil er so manches in Frage stellt, was andere ohne weiteres Nachdenken übernehmen. Er hat mit seiner originellen, rhythmisch komplex geprägten Kompositionstechnik, die sich keinen hergebrachten Regeln unterwirft (auch nicht den arabischen), eine eigene Klangsprache geschaffen, die fremd und doch zugleich seltsam vertraut klingt.
Im Auftrag des Südwestfunks schrieb Abou-Khalil zwei Stücke für Streichquartett. Die Uraufführung mit dem Kronos String Quartet war einer der Höhepunkte beim “Jazz-Gipfel” 1992 in Stuttgart. Auf seiner CD „Arabian Waltz“ mit dem Balanescu String Quartet gelang es ihm, das Streichquartett, eine jahrhundertealte Domäne der klassischen Musik, in sein musikalisches Denken zu integrieren.
Das – oberflächlich betrachtet – willkürliche Aufeinandertreffen von vermeintlich gegensätzlichen Instrumenten und das scheinbar widersprüchliche Zusammenprallen von Talenten aus verschiedenen Musikrichtungen ist das Resultat eines von Abou-Khalil wohlüberlegten Konzepts. Die bestehenden Unterschiede geraten nämlich unter seiner Regie keineswegs zu babylonischer Verwirrung: Vielmehr werden hier weltoffene Musiker aus verschiedenen kulturellen Hintergründen von einem gemeinsamen intuitiven Verstehen der ernsten Herausforderung inspiriert, welche die Interpretation der Musik Abou- Khalils an sie stellt. Intellektuelle und emotionale Identifikation mit seinen Kompositionen führt zu einer sich immer wieder steigernden Begeisterungsfähigkeit jedes der Aufführenden, die sich unmittelbar auf den Zuhörer überträgt. Jedoch der Wunsch, sich zu profilieren, ist nie wichtiger als die Bereitschaft, vereint etwas Neues durchzusetzen und in unberührte Gefilde vorzustoßen. Die verschiedenartigen, aber letztlich alle aus diesem Elixier geschaffenen Werke Abou-Khalils haben sich so weit verselbständigt, dass sie außerhalb der Konventionen stehen und sich daher kaum in bestehende Kategorien einordnen lassen. Ein Nachsinnen über Orient oder Okzident, Jazz oder Klassik, Weltmusik oder Fusion, erübrigt sich also.
Einem Auftrag der Stadt Duisburg folgend, komponierte er Musik für das Ensemble Modern, eines der renommiertesten, aus internationalen Musikern bestehende Orchester für zeitgenössische Musik. Eigens für das BBC Concert Orchestra schrieb Abou-Khalil in London und Chichester uraufgeführte Werke. Diese orchestrale Arbeit ließ er keineswegs zur einmaligen Sache werden, er schrieb weiterhin Orchesterwerke für internationale Orchester – von Osnabrück über St. Pölten bis nach Skopje in Mazedonien.
Auch im Bereich der Filmmusik ist Abou-Khalil tätig: Er schrieb 1998 die Musik für den prämierten deutsch-türkischen Film “Yara” des Regisseurs Yilmaz Arslan, und 2010 sah die Uraufführung seiner monumentalen Partitur für den 1922 entstandenen deutschen Stummfilm “Nathan der Weise”. Der Auftrag hierfür kam von den Fernsehsendern ZDF und Arte; die eindrucksvolle Uraufführung des sinfonischen Werkes erfolgte dann in München live mit dem Bundesjugendorchester und wurde von Publikum und Presse mit größter Begeisterung aufgenommen.
“Unglaublich feingliedrige, unregelmäßige Rhythmen zu Melodieketten geformt, die sich im unentwegten Schwebezustand befinden, niemals zur Landung antreten und daraus ein hohes Maß an Charme und Sogwirkung beziehen”, fasst der Flötist des Ensemble Modern, Dietmar Wiesner, seine Eindrücke zusammen. „Während der Zusammenarbeit mit Rabih Abou-Khalil fühlte ich mich stark an einen Ausspruch von Herbert von Karajan erinnert: “Nicht den Taktstrich mitspielen, über den Taktstrich hinaus spielen.”
Abou-Khalils Musik lebt von der kreativen Begegnung und nicht von der Exotik. Aus ganz verschiedenen Kulturelementen entsteht hier etwas Eigenes und in sich Schlüssiges, keine Chimäre, kein Wolpertinger – halb Hase, halb Ente – sondern etwas wirklich Lebendiges und Schönes , wie ein „Blaues Kamel’.
Jerry G. Bauer